Unglaublich wahre Grotesken aus Spanien
Fettkringel, Zinktabletten und des Tages Erste Ölung
Spaniens Frühstückskultur sehe ich zwischen traditionellem Trauerspiel und Avantgarde schwanken.
Was ich am spanischen Radio liebe, sind die markerschütternden Torschreie ("Goooooooool") bei Fußballübertragungen sonntags abends. Ansonsten bin ich kein Rundfunkhörer, denn mich nerven die typischen Plauderrunden ("tertulias"), bei denen alle durcheinander reden, doch vor einiger Zeit ließ ich nach Übernahme eines Mietwagens das Programm zu früher Stunde so eingeschaltet wie es war. "Verratet uns, was ihr zum Frühstück esst", tischte der Moderator den Hörern auf. Was gab es da mitzuteilen? War nicht von vornherein klar, dass in Spanien Frühstück – sofern es sich überhaupt in Form einer definierten Mahlzeit abspielt – als traditionelles Trauerspiel zelebriert wird? Immer süß, immer gleich wenig, einfach spartanisch, nichts für die Gesundheit, nichts für die Substanz. Alleine der Morgenblick auf die Teller meines Clans, in den ich durch mein "Big fat Spanish Wedding" eingeheiratet habe, hätte ausgereicht, um meine langjährigen Erfahrungen mit Beispielen zu belegen. Kein Wurstbrot, kein Käsebrot, kein Obst, kein frischer Saft, keine Haferflocken, kein Quark, kein Vollkornmüsli, Beuteltee nicht einmal im Notfall. Statt dessen ein höllenstarker Kaffee, der gleich zu Tagesbeginn ein Loch in den Magen reißt und keine andere Möglichkeit gibt, als schlagartig wach zu werden und die Darmfunktion anzuregen. Dazu ein Croissant. Oder ein magerer Toast ("tostada"). Oder eine "magdalena", Biskuitgebäck in Häubchenform. Oder ein süßes, weiches, gummiartiges Milchbrötchen ("pan de leche"), das sich bei Eindruck des Fingers gleich wieder aufbuckelt wie ein Katzenrücken. Kulinarisch deprimierend ergeht es auch meinem Schwiegerhund, der staubtrockene Kräcker zu seinem Napf Leitungswasser bekommt und – seit ich ihn als Welpen kenne – von chronischem Hunger geplagt scheint.
"Erst ein Löffelchen Olivenöl zum Frühstück", hörte ich bei der Autofahrt plötzlich eine gewisse Berta aus Lugo im Radio sagen.
"Löffelchen?", hakte der Moderator nach.
"Na gut, ein Esslöffel, richtig voll, immer auf nüchternen Magen", sagte Berta und unterstrich ihren Schluckvorgang durch ein lautmalerisches "Glub". Dann folgte ihr Kurzvortrag, wie gut Olivenöl von innen heraus für ihre Haut sei, "aber nur das gute, das kaltgepresste".
"Und was ist bei dir mit Kaffee?", fragte der Moderator.
"Nein, kein Kaffee, aber nach dem Öl drei Orangen oder drei Birnen oder drei Kiwis."
"Immer drei?"
"Ja, immer drei, kommt darauf an, was ich im Haus habe."
Berta aus Lugo erstaunte mich mit ihrem Bekenntnis zur Gesundheitskost und zu des Tages Erster Ölung, eine echte Strömung der Avantgarde. Von José aus Alicante war zu erfahren, dass er allmorgendlich einen Babybrei aus dem Gläschen liebt und danach einen Espresso und eine Banane, wobei ungeklärt blieb, über welche Restbestände an Zähnen er verfügte. Und Nacho, ein älterer Herr, bekundete, seinem Körper vor dem Müsli zuallererst Zinktabletten zuzuführen, um das Immunsystem zu stärken.
Seit dem Radioprogramm hat mich das Thema Frühstück sensibilisiert. Meine Schwägerin Ana, die ihre Arbeitszeit in einer Landwirtschaftsbehörde tötet und sich dafür zumindest schämt, erzählt aus der Distanz der Beobachterin, dass ihre Beamtenkollegen im Regelfall ungefrühstückt erscheinen, um ihren Dienst irgendwann im Laufe des Vormittags zwischen Zeitungslektüre und größtmöglicher Gefechtsabwehr von Anrufen mit einer ausgiebigen Rast im Café um die Ecke sinnvoll zu nutzen. Meist gegen halb elf, elf. Dann kann der neue Ernährungstag durchaus mit einem Häppchen Kartoffelomelette ("tortilla de patata") beginnen, das gleichlaufend hilft, den Geruch zu beseitigen, der ungefrühstückten Rachen entsteigt. Zu den Begleitphänomenen dieses Frühstücktreffs zählen die Analysen des vorangegangenen Fernsehabends und des laufenden Ligabetriebs im Fußball.
Ist die Morgenstund' noch jung und die Nacht tendenziell durchzecht gewesen, versorgen sich Spanier im Extremfall mit einer Kaloriengranate, die die Tinte in den Füller treibt: Fettkringel ("churros") mit Schokoladensauce ("chocolate"), ein verbreitetes kulinarisches Phänomen in Bars und Kaffeehäusern. Des Einzelnen Eintauchvorgänge der Fettkringel mit den Fingern in die dickflüssige Masse darf man sich ähnlich appetitlich vorstellen wie die Nahrungszufuhr eines Franzosen, der früh morgens das halbe Croissant in der Kaffeeschale versenkt und dann versucht, das durchtränkte Weichteil irgendwie unfallfrei in den Mund zu befördern. Wer einmal Zeuge dieses Schauspiels geworden ist, weiß, was ich meine. Französische Vollbartträger setzen dem Verzehr der Hörnchenteile aus dem Wannenbad die Krone der Ästhetik auf.
Wie mühelos sich der Morgenschaltkreis von "Süß" auf "Alles" umlegen lässt, stellen manche Spanier an Hotelbüffets unter Beweis und fügen sich verhaltensbiologisch in internationale Gepflogenheiten ein. Stichwort Futterneid, spezifisch für in Gruppen lebende Wirbeltiere, die Nahrungskonkurrenten fürchten. Zerfressen von der Angst, jemand anders könnte ihnen das Beste wegnehmen, geben Büffetbesucher ihren Daumen und Zeigefingern eine Klammerfunktion, um die hoffnungslos überfrachteten Schichtwerke auf ihren Tellern zum Tisch zu balancieren. Eine fette Beute aus Speck und Spiegeleiern, Schinken, Oliven, Lachs. Das meiste bleibt am Ende natürlich liegen. An derlei Frühstück sind Spanier beim besten Willen nicht gewöhnt.
Apropos spanische Büffets. Sympathisch ist mir in einer Region wie Katalonien der Einrieb roher Tomatenhälften auf ein Baguettestück, begleitet von etwas Olivenöl und Salz; ersatzweise kommt ein Schüsselchen mit Tomatenpüree auf den Tisch. Ein landesweites Rätsel hingegen geben mir die gekochten Eier auf. Keine frischen weichen, sondern steinharte, eiskalt aus dem Kühlschrank, meist mit perligem, glitzerndem Wasserüberzug auf der Schale. Unerklärlich sind mir auch die henkellosen Gläser geblieben, in denen in Cafés in Madrid und auf dem Land gerne glühend heißer Kaffee bis fast an den Rand hinauf serviert wird. Die Behältnisse erfordern entweder den Einsatz von Skihandschuhen, die ich bei derlei Gelegenheiten vergleichsweise selten bei mir habe, oder lassen sich erst nach längerer Zeit des Temperaturverlustes verbrennungsfrei anfassen. Dafür gab es letzte Woche in einem Hotel in León den Milchkaffee aus der doppelbehenkelten Suppentasse, die ich sogleich fotografierte und wirklich praktisch fand: endlich das ideale Morgengefäß für Rechts-, Links- und Beidhänder!